Die Bundesregierung rührt Ehegattensplitting trotz bekannter Schieflagen nicht an – Doris Achelwilm: „Diese Ignoranz ist gleichstellungspolitisch unverantwortlich“

Mit einer Kleinen Anfrage hat die Fraktion DIE LINKE auf Initiative von Doris Achelwilm, gleichstellungspolitische Sprecherin, die Bundesregierung zum Ehegattensplitting und anderen geschlechtsspezifischen Wirkweisen im Steuerrecht befragt. Das Ehegattensplitting wird in Deutschland von vielen Akteur*innen wie auch auf europäischer bzw. internationaler Ebene (u.a. durch den CEDAW-Ausschuss der UN und die OECD) aufgrund seiner Anreiz- und Verteilungswirkung zulasten Zweitverdienender kritisiert.

Weil es als Steuerprivileg für gemeinsam veranlagte Ehepartner*innen den größten finanziellen Nutzen bringt, wenn die beiden Einkommen möglichst weit auseinandergehen, schafft es Anreize für ein Hauptverdiener-Modell, in dem Frauen häufiger als Männern die Zuverdienst- oder unbezahlte Arbeit zu Hause zufällt. Alte Rollenbilder, Abhängigkeiten und Arbeitsteilungen werden zementiert. Das Ehegattensplitting mindert die Steuereinnahmen von Bund und Ländern um rund 21 Mrd. Euro jährlich, wobei mit 92,1 Prozent vor allem Ehepaare in Westdeutschland profitieren. Auch der Wissenschaftliche Beirat des Bundesfinanzministeriums stellte 2018 in einem Gutachten fest, dass das Ehegattensplitting „der politisch erwünschten Vereinbarkeit von Familie und Beruf entgegen[steht]" (Frage 31).
 
Die Antwort des Finanzministeriums auf die Kleine Anfrage der Linksfraktion gibt hingegen vor, keine Regelungsbedarfe zu sehen. Achelwilm: „Die Bundesregierung stellt auf Durchzug und will die Negativ-Effekte des Ehegattensplittings nicht einmal ansatzweise korrigieren. Die ungerechte Systematik soll bleiben, wie sie ist. Angesichts all der bekannten und schon so lange von maßgeblichen Institutionen und Expert*innen angemahnten Schieflagen des Ehegattensplittings ist das eine erschreckende Haltung.“
 
Forderungen wie die des Europäischen Parlaments, für die ökonomische Gleichstellung von Frauen und Männern schrittweise die individuelle Besteuerung von Einkommen einzuführen, nimmt die Bundesregierung lapidar „zur Kenntnis“ (Frage 15). Es bestehe ja bereits die Möglichkeit der Einzelveranlagung auch bei Eheleuten – laut Achelwilm ein „scheinheiliges Argument“: „Dass die Zusammenveranlagung kein verordneter Zwang ist, ist unerheblich, wenn das Splitting-Verfahren möglichst große Verdienstunterschiede zwischen den Partner*innen begünstigt und das Splittingverfahren dann in der Regel mehr oder weniger begeistert gewählt wird. Faktisch wird damit die Einkommenskluft zwischen den Ehepartner*innen durch Job- und Arbeitszeitentscheidungen aufrechterhalten. Diese Ignoranz ist gleichstellungspolitisch unverantwortlich.“
 
Insgesamt verfügt die Bundesregierung über zu wenige Daten, die Lohn- und Einkommensteuer-statistiken geschlechterdifferenziert auswerten und mögliche gleichstellungsrelevante Auswirkungen deutscher Steuerregelungen erkennen lassen (Fragen 1-7). Das betrifft etwa die Frage, inwieweit das Einkommensteuerrecht konkrete Auswirkungen auf die Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern hat (Gender Pay Gap) (Frage 5). Daran soll sich auch in Zukunft nichts ändern: Die Datenlücken im Sinne einer aktiven Gleichstellungspolitik zu schließen, wie das z.B. Österreich gemacht hat, plant die Bundesregierung nicht (Fragen 16 und 17).
 
Eine Streichung der Steuerklasse V ist und bleibt nicht vorgesehen. Das 2010 als milderndes Mittel eingeführte Faktorverfahren ist kaum bekannt und wird wenig in Anspruch genommen: 2018 machten weniger als 0,6 Prozent der Ehen oder Lebenspartnerschaften von der Möglichkeit Gebrauch. Achelwilm: „Die finanzielle Anreizfunktion des Ehegattensplittings ist seit 1958 gelernt und steuerpraktischer Standard in Ehehaushalten – in der Regel zulasten der Einkommensbilanz von Frauen. Der Schaden zeigt sich spätestens bei der Rente oder nach Scheidungen und gesellschaftspolitisch als offenes Gerechtigkeits- und Gleichstellungsproblem. Dennoch strebt die Bundesregierung nicht einmal Reformen unterhalb der Abschaffung des Ehegattensplittings an, um Abhilfe zu schaffen.“
 
Die ostdeutschen Bundesländer, in denen die Verdienstunterschiede zwischen Männern und Frauen bzw. in Ehen tendenziell weniger ausgeprägt sind als im Westen, werden vom Ehegattensplitting ebenfalls verteilungslogisch benachteiligt. Die Entgegnung des Finanzministeriums auf die entsprechende Frage ist so banal wie interessant: Der Anteil vollzeitbeschäftigter Frauen in den östlichen Bundesländern sei höher, was „tendenziell den individuellen Splitting-Effekt mindert“ (Frage 27). Auf die Idee, dass es Gleichstellungsansprüche konterkariert, wenn die existenzsichernde Vollzeittätigkeit von Frauen steuerlich bestraft und damit eine geringere Beschäftigungsquote von Frauen zementiert wird, kommt die Bundesregierung hier aber nicht. Auch eine Einschätzung, welchen Einfluss das Ehegattensplitting auf z.B. Arbeitszeitwahl/Umfang des Beschäftigungsverhältnisses der jeweiligen Ehepartner spielt, gibt die Bundesregierung nicht (Frage 29).
 
Als einzig konkrete Initiative, Gleichstellung auch im Bereich der Steuerpolitik aktiv voranzutreiben, wird die diskriminierungsfreie Ausgestaltung von Steuervordrucken und Steuerbescheiden bis 2021 „angestrebt“, auch „Personen des sogenannten dritten Geschlechts („Divers“)“ sollen berücksichtigt werden. Bis dato sind die Steuerformulare am Mann als Hauptverdiener ausgerichtet, unabhängig davon, ob die Ehefrau mehr verdient. „Eine derartige Änderung wenigstens auf Sprachebene ist seit Jahrzehnten überfällig und leider auch schon das Fortschrittlichste an der aktuellen Steuerpolitik der Bundesregierung“, so Achelwilm.
 
Die LINKEN-Abgeordnete abschließend: „Das deutsche Steuersystem ist ganz und gar nicht so neutral, wie die Bundesregierung vorgibt. Das Ehegattensplitting ist ein starkes Beispiel dafür, dass das Einkommensteuerrecht die unterschiedliche Erwerbsquote und Einkommenssituation von Frauen und Männern ‚steuert‘. Es begünstigt Alleinverdiener-Paare mit Spitzeneinkommen, die ungleiche Verteilung von Voll- und Teilzeitarbeit, von hohen und niedrigen Löhnen, bezahlter und unbezahlter Arbeit zwischen Frauen und Männern. Es ignoriert nicht-eheliche Lebensgemeinschaften und alternative Lebensformen. Dass die Bundesregierung trotz politisch und rechtlich gebotener und formal gewünschter Gleichstellung hier weder Handlungsbedarf sieht noch die Notwendigkeit, ihre Haltung zu begründen, lässt für Großbaustellen wie Equal Pay und prekärer Beschäftigung vor allem von Frauen in dieser Legislatur nicht gerade hoffen. Anstelle des Ehegattensplittings muss das Prinzip der Individualbesteuerung treten, wie es in Europa Standard ist. Die dadurch frei werdenden Mittel könnten in eine an Kindern orientierte Grundsicherung fließen, die unabhängig vom Familienstand vor Armut schützt und nicht noch besserverdienende Paare gegenüber Familien mit geringem Einkommen bevorzugt.“

Die Kleine Anfrage finden Sie hier.

Hier finden Sie die Auswertung der Kleinen Anfrage durch den Deutschen Juristinnenbund.